Warstader Geschichten

Äpfel

Wir wohnten auf dem Kirchplatz, visavis gegenüber der Kirche, in der obersten Etage eines 3-stöckigen Hauses. Die Wohnung war eigentlich ein ausgebauter Dachboden, ohne fließendes Wasser, ohne Toilette (die lag eine Etage tiefer) und mit dünnen Pappwänden, die sich bei einer Rangelei unter Jungen schon mal verschoben.
Es war an einem Sonntagmorgen - ich lag noch im Bett und las, während meine Eltern sich im Wohnzimmer unterhielten - als auf dem Hof nebenan plötzlich Stimmen laut wurden. Dort wohnte mein Spielfreund Eechen mit seiner Familie, die meinem Vater oftmals ein Dorn im Auge war. In Eechens Familie ging es nämlich manchmal laut zu, und das Spielen auf dem Hof endete nicht selten mit Geheul und Geschrei. Genau das "Richtige" für meinen Vater, der oben saß und sich auf seine Arbeit konzentrieren musste. Da fiel dann manches böse Wort. Doch uns Kinder kümmerte das wenig, wenn wir auf dem Kirchplatz tobten oder gemeinsame Streifzüge durch die Gemeinde machten.
Stutzig wurde ich, als ich aus den Stimmen unten auf einmal die unseres Dorfpolizisten heraushörte, und schon war ich am Fenster. Tatsächlich, da stand Onkel Fritz, Eechens Stiefvater, im Gespräch mit dem Polizisten, und es ging um geklaute Äpfel. Dazu muss man wissen, dass unser Kirchplatz an drei Seiten von Häusern umgeben ist, an der vierten aber, zu den freien Feldern hin, befand sich ein kleiner Obstgarten, von dem Ehepaar Semmelhaack bewirtschaftet. Semmelhaacks hatten leider das Pech, ein ganzes Stück entfernt von dem Garten zu wohnen. Deshalb konnten sie ihn auch nicht ständig im Auge behalten - fatal in der Erntezeit. Da war der Garten mit seinen Apfelbäumen nämlich regelmäßig das erklärte Ziel der Kirchplatzkinder. Im Ergebnis führte das dazu, dass Semmelhaacks nicht viel zu ernten hatten. Sie kannten die Übeltäter natürlich, hatten sicher auch manches Kind im Garten gesehen, aber noch keines in flagranti ertappt. Aber irgendwann war es ihnen wohl zu viel geworden und sie schalteten die Polizei ein.
Und jetzt stand der dicke Vollheide, unser Dorfpolizist, auf dem Hof nebenan und unterhielt sich mit Onkel Fritz. Eechen wurde geholt, Onkel Fritz wurde laut und es klatschte mehrmals erheblich. Zum Schluss noch die Frage: "Wo wohnen denn .... ?" Wer wo wohnen sollte, verstand ich nicht, weil im gleichen Moment die Stimme meines Vaters aus dem Wohnzimmer erklang: Natürlich, wundert mich nicht, dass der Bengel auch noch klaut! Wenn das unsere Kinder machen würden...! Er sagte nicht, was dann passieren würde, aber wir hatten einen Heidenrespekt vor unserem Vater, und eine solche Drohung war so ziemlich das Schlimmste, was mir als Kind an einem Sonntagmorgen passieren konnte.
Ängstlich wartete ich, was weiter geschehen würde. Im Grunde konnte es jeder Junge vom Kirchplatz sein, nach dem der Polizist gefragt hatte, denn Äpfel geklaut hatten wir alle. Aber es war eben nicht jeder, denn 2 Minuten später hörte ich unsere Haustür ins Schloss fallen und schwere Schritte auf der Treppe. Um Himmels willen - Panik fasste mich! Kommt der tatsächlich zu uns? Aber vielleicht, vielleicht ja doch nicht, sondern er ging in die erste Etage zu Schönkes. Wolfgang war auch immer bei unseren Beutezügen dabei. Doch kein Klopfen in der ersten Etage, statt dessen kamen die Schritte kräftig und unaufhaltsam weiter nach oben - die Katastrophe war unausweichlich. Was solte ich bloß tun? Die typische Kinderreaktion - ich zog mir das Deckbett über den Kopf, als ein kräftiges Klopfen an unserer Tür ertönte, und hörte, wie meine Mutter öffnete:
"Guten Morgen, Frau Biallas!"
"Guten Morgen, Herr Vollheide! Sogar am Sonntagmorgen dienstlich unterwegs?"
"Ja, ja, ich war gerade hier oben und da habe ich mir gedacht, gleich mal einer Beschwerde von Semmelhaacks nachzugehen - die Kinder haben in diesem Jahr überhaupt keine Äpfel mehr auf ihren Bäumen gelassen. Ich war eben schon bei Haake ..."
Jetzt musste es kommen - nichts konnte mir mehr helfen! Doch dann ...
" ...und jetzt wollte ich zu Schönkes gehen. Können Sie mir sagen, ob die hier im Haus wohnen?"
Der Stein, der mir vom Herzen fiel, muss ins Bett geplumpst sein, sonst hätte ihn jeder hören müssen. Ich konnte es nicht glauben, er kam wirklich nicht meinetwegen, sondern ging anschließend eine Treppe tiefer und danach noch zu einer Reihe weiterer Spielkameraden.
Warum ich nicht auf seiner Liste stand, habe ich nie erfahren, aber das war mir damals auch ziemlich egal. Doch ich war dankbar gegenüber meinen Freunden, dass mich keiner verraten hatte.