Warstader Geschichten

Unser Trinkwasser

Nein, wir hatten noch kein fließend Wasser; eine Wasserleitung erhielt Warstade erst in den 60'er Jahren. Wir waren auf Zisternen oder Brunnen angewiesen. Gesammeltes Regenwasser und mit eigener Muskelkraft ans Tageslicht befördertes Grundwasser - das hört sich doch gut an und lässt schonende Nutzung der natürlichen Ressourcen erwarten. In der Praxis allerdings war es nicht ganz so optimal, wie es in dem einen oder anderen grünen Ohr heute klingen mag.

In unserem Haus war im Parterre ein Textilgeschäft mit 3-4 Mitarbeiterinnen; außerdem wohnte im Parterre die Eigentümerfamilie. Darüber im ersten Stock gab es 2 Mietwohnungen, und unsere Familie wohnte ganz oben im 2. Stock, sozusagen im Penthouse. Allerdings ist dieser Begriff wohl doch etwas irreführend. Genauer gesagt, war es eigentlich nur ein Dachboden, den man wegen der notwendigen Aufnahme von Flüchtlingen zur Wohnung umfunktioniert hatte. Dem Verwendungszweck entsprechend, war die Ausstattung dieser Wohnung eher spärlich. Die Wände waren aus einer Art Presspappe und nur notwendig verankert, die Zimmer winzig klein und nur im Wohnzimmer stand ein kleiner Kohleherd, der auch zum Kochen herhalten musste. Eine eigene Toilette für eine siebenköpfige Familie war offenbar nicht erforderlich. Es erzog ja auch zur Disziplin, wenn man eine Etage tiefer aufs Stille Örtchen gehen musste. Wobei "Still" nun auch wieder nicht ganz richtig ist. Da es nicht nur bei uns oben, sondern im ganzen Haus kein fließendes Wasser gab, war das kein WC, sondern ein PC, ein Plumps-Closett. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn die Grube, die unsere Hinterlassenschaften aufnehmen musste, befand sich im Keller. Auf diese Weise hatten alle Teile, die sich bei dem notwendigen Geschäft lösten, hinreichend Zeit, eine gewisse Fallgeschwindigkeit zu entwickeln und mit lautem Platschen in der Grube zu landen.

Nein, diese Toilette war nicht sehr beliebt, insbesondere im Winter, weil dann die Eiseskälte von unten hochstieg und schon kurzzeitiges Sitzen zumindest eine Blasenentzündung in Aussicht stellte. Im Sommer hingegen ließ der aufsteigende Geruch nur begrenzte Gemütlichkeit zu. So nimmt es auch kein Wunder, dass auf unserer Toilette keine Morgenzeitung gelesen wurde; die brauchte man im übrigen für andere Zwecke, denn den Luxus eigenen Toilettenpapiers konnten wir uns damals nicht erlauben.

Aber das eigentliche Dilemma war, dass wir kein fließendes Wasser hatten. Eigentlich hätten wir auch für diesen Umstand dankbar sein müssen, wurden wir doch zu nützlicher Bewegung angehalten, wenn wir mit unseren Wassereimern treppauf und treppab liefen. Und da auch die Kohlen aus dem hintersten Keller herauf getragen werden mussten, kam eigentlich kaum Langeweile auf. Aber damals war uns das doch ziemlich lästig, besonders deshalb, weil wir zeitweise zum Wasserholen quer über den Kirchplatz zum Pastorenhaus gehen mussten, das etwas 100 Meter entfernt war. Glücklicherweise war das meist nur im Sommer der Fall, und zwar aus folgendem Grund:

Unser Haus war eines der wenigen Häuser mit Flachdach. Und dieses Flachdach war, wie damals üblich, geteert. Der Teer hatte die Eigenschaft, sich im Sommer bei starker Sonneneinstrahlung zu verflüssigen. Wenn es in diesem Zustand zu Regenfällen kam, ging der Teer eine unheilige Symbiose mit dem Regenwasser ein. Wenn Ihnen heute jemand sagt, dass sich Teer nicht mit Wasser mischt, glauben sie es nicht. Wir haben mehrere Jahre das Gegenteil erlebt. Je nach Witterung schwankte die Wasserfärbung zwischen einem leichten Gelbton bis zu einem kräftigen Braun, so dass man kaum noch auf den Grund des Wassereimers sehen konnte. Das war nun das Wasser, das in unsere Zisterne lief und das wir grundsätzlich nicht nur zum Waschen, sondern auch zum Kochen und Trinken verwendeten. Im Winterhalbjahr wurde das ja noch akzeptiert, weil der Teeranteil dann sehr gering war, aber im Sommer lehnte meine Mutter es ab, dieses Wasser in der Küche zu verwenden -  und dann mussten wir Kinder eben mit den Wassereimern zum 100 m entfernten Pastorenhaus laufen, dessen Zisternenwasser im Vergleich zu unserem von geradezu kristallener Klarheit war.

Unsere Zisterne, die das Teerwasser vom Dach aufnahm, habe ich übrigens nie zu Gesicht bekommen. Sie ist in den Jahren, in denen wir dort wohnten, auch niemals geleert und gereinigt worden. Wahrscheinlich ging man davon aus, dass der hohe Teergehalt des Wassers ohnehin alle Keime abtöten würde. Da muss etwas dran gewesen sein, wie ich später feststellen konnte. Ende der 50'er Jahre, als wir bereits in dem Nachbarhaus an der Hauptstraße wohnten, das mein Vater für 3.500,- DM erstanden hatte (so sah es auch aus) und Warstade an das öffentliche Leitungsnetz angeschlossen worden war, wurden natürlich die Zisternen in den Häusern überflüssig. Als ich eines Tages aus der Schule kam und zu meinen Freunden auf den Kirchplatz ging, war vor unserem alten Haus ein großer Auflauf. Ein Pumpwagen der Feuerwehr stand vor der Tür und der ganze Kirchplatz stank wie eine Jauchegrube. Meine Frage, ob die Klärgrube geleert werden würde, wurde verneint, und ich erfuhr, dass man die Zisterne trockenlegen wollte und sie deshalb auspumpte. Da es sich ja nur um Regenwasser handelte, ließ man das ausgepumpte Wasser einfach über den Kirchplatz ablaufen. Und das verursachte diesen entsetzlichen Gestank, der mir zum ersten Mal vor Augen führte, was wir außer Teer noch alles getrunken hatten. Immerhin, die Ratten, Mäuse, Frösche und sonstiges Getier, das die Pumpaktion zu Tage förderte, waren alle tot. Vermutlich, weil sie den Teer nicht so gut vertragen haben wie wir.